„Auf Dauer ist der Erhalt unseres kulturellen Erbes nicht leistbar“

neue energie: Sie beschäftigen sich seit rund zwei Jahrzehnten mit den Auswirkungen des Klimawandels auf unser kulturelles Erbe. Wie schneidet Deutschland im europäischen Vergleich ab?

Johanna Leissner: Deutschland liegt im Vergleich sehr weit hinten.

ne: Wo läuft es besser?

Leissner: Natürlich dort, wo der Anstieg der Meeresspiegel ein großes Thema sein wird, also Großbritannien, aber auch nordeuropäische Länder wie Norwegen oder Schweden. Seit einigen Jahren sind auch Italien und Griechenland sehr aktiv.

ne: Wie zeigt sich das konkret?

Leissner: An dieser Stelle bitte ich um Geduld. Die EU-Kommission hat zusammen mit ihren Mitgliedsstaaten im Januar eine Expertengruppe zum Thema Klimawandel und Kulturerbe eingerichtet, ich vertrete dort Deutschland und wurde auch zur Vorsitzenden gewählt. Derzeit werten wir einen Fragebogen und Best-Practice-Beispiele aus, um einen ersten Überblick zur Situation in den jeweiligen Ländern zu bekommen. Dieses Ergebnis möchte ich abwarten.

ne: Denkmalschutz hat hierzulande eine sehr lange Tradition. Warum wird das Thema Klimawandel bislang zu wenig beachtet?

Leissner: Die Dringlichkeit wird einfach noch nicht erkannt. Das ändert sich zwar langsam. Aber bislang hat es am Bewusstsein gefehlt. Wobei es schon längere Zeit insgesamt nicht gut läuft. Deutschland hat seit 1997 kein nationales Forschungsprogramm zum Erhalt des Kulturerbes mehr aufgelegt. Natürlich ist der Denkmalschutz prioritär Ländersache. Aber gerade bei den Landesämtern für Denkmalpflege wurden die Gelder in der Vergangenheit immer weiter zusammengestrichen. Früher arbeiteten dort auch sehr viel mehr Wissenschaftler. Wenn sich aber ein Land aus der Forschung zurückzieht, ist das ein schlechtes Signal.

ne: Der Bund rechnet offiziell vor, mit wie viel Millionen er ‚national wertvolle Kulturdenkmäler‘ unterstützt. Von 1950 bis 2020 seien so etwa mit rund 387 Millionen Euro über 700 Kulturdenkmäler erhalten und restauriert worden. Dazu kommen Denkmalschutz-Sonderprogramme…

Leissner: Sonderprogramme werden auch immer mal wieder von den Ländern aufgelegt, das wird dann groß über die Medien verbreitet. Meistens geht es darin nicht um Forschung, sondern um Erhaltungs- und Renovierungsmaßnahmen. Baden-Württemberg wird jetzt zehn Millionen Euro für seine Schlösser aufwenden, die, nur nebenbei, dem dortigen Finanzministerium unterstehen. Um sich gegen den Klimawandel zu wappnen, braucht es aber vor allem wissenschaftliche Grundlagen, evidenzbasierte Daten für Präventionsstrategien, aber auch eine kontinuierliche Pflege, also Maintenance, und zwar bundesweit. Das wären dann laufende, jährliche Haushaltsposten, was wiederum nicht erwünscht ist, weil ja immer gespart werden soll.

ne: Im Dezember konnten Sie das sogenannte Keres-Projekt für Deutschland starten. Die Ergebnisse sollen auch dabei helfen abzuschätzen, in welchem Umfang künftig in den Denkmalerhalt investiert werden muss. Um was geht es bei dem Projekt genau?

Leissner: Mit Keres wollen wir herausfinden, in welchem Ausmaß der Klimawandel in den jeweiligen Regionen Deutschlands zu Veränderungen führen wird und welche Auswirkungen das auf den historischen Gebäudebestand und die historischen Gärten haben wird. Damit können nachhaltige Präventions- und Notfallmaßnahmen für den Erhalt entwickelt werden. Wir wollen für das Kulturerbe in Deutschland sozusagen Climate Fact Sheets erstellen. Dazu werden wir gemeinsam mit dem Hamburger Climate-Service-Center mit hochaufgelösten regionalen Klimamodellen zukünftige Extremklimaereignisse berechnen, wobei wir das pessimistischste, aber momentan realistische IPCC-Emissionsszenario RCP 8.5 heranziehen. Es geht darum abzuschätzen, wie oft es in einem Jahr zu Starkregen und extremer Trockenheit kommen kann oder wie oft Temperaturen über 40 Grad in Deutschland erwartet werden.

ne: Wer ist der Projektträger?

Leissner: Das Bundesforschungsministerium [kurz: BMBF]. Allerdings war es gar nicht so einfach, das Thema zu platzieren. Eigentlich ging es in der Ausschreibung um Sicherheitsforschung, Klimawandel und Extremklimaereignisse waren gar nicht angesprochen. Ich habe deshalb beim Projektträger angefragt und erläutert, dass der Klimawandel mit den zunehmenden Extremwetterereignissen ein Sicherheitsthema darstellt und auch das Kulturerbe betroffen sei. Wenn sich sogar die Münchner Sicherheitskonferenz dem Thema Klimawandel widmet – 2019 gab es dazu eine eigene Session geleitet von Professor Schellnhuber – dann kann man davon ausgehen, dass der Klimawandel ein Sicherheitsrisiko darstellt. Das wurde akzeptiert und wir konnten unseren Antrag einreichen. Aber es zeigt sich, wir sind hierzulande auf die Facetten des Klimawandels nicht gut vorbereitet.

ne: Ist bekannt, in welchem Ausmaß die bislang geleisteten Denkmalschutz-Investitionen durch Effekte des Klimawandels bereits wieder zunichte gemacht wurden?

Leissner: Wir hatten Mitte Juni im Rahmen des Keres-Projekts unsere erste Sitzung mit unserem Expertengremium. Dabei habe ich auch die von Ihnen nachgefragten Kosten angesprochen. Leider konnte niemand eine belastbare Antwort geben; es müsste zunächst eine komplette Schadenserhebung durchgeführt werden wofür man wiederum eine Bewertung mit neuen sozio-ökonomischen Modellen bräuchte. Mit anderen Worten, wir brauchen wissenschaftliche Analysen, für die aber die nötigen Daten fehlen. Nebenbei, das ist europaweit ähnlich. Unsere anfangs erwähnte EU-Arbeitsgruppe wird sicherlich in ihre Empfehlungen aufnehmen, dass wir in Europa dazu kaum evidenzbasierte Daten haben und entsprechende Forschungsprojekte benötigen. Denn was schon jetzt offenkundig ist – immer mehr der neu eintretenden Schäden sind dem Klimawandel zuzuordnen. Dazu kommt aber noch ein anderes Problem.

ne: Nämlich?

Leissner: In unserem „Climate-for-Culture“-EU Projekt, das wir von 2009 bis 2014 durchgeführt haben, konnten wir erstmals mittels der Kopplung von Klimamodellierung und Gebäudesimulation zeigen, wie sich bei einer zunehmenden Erderwärmung das jeweilige Innenraumklima verändern wird. Hintergrund ist, dass es ja sehr viele historische und auch moderne Gebäude gibt, die keine Klimaanlage haben. Wenn sie eine haben, wird sich aber der Energieverbrauch stark ändern, weil je nach dem mehr geheizt, gekühlt, befeuchtet oder entfeuchtet werden muss. Diesen zukünftigen Energiebedarf, der ein erträgliches Innenraumklima ermöglicht, können wir mit Hilfe unserer Methode berechnen, und zwar für alle Gebäude ob historisch, modern oder in der Planung. Die zunehmende Erderwärmung wird die Kosten in den Museen oder im Denkmalbestand enorm in die Höhe treiben. Auch das ist ein globales Thema. 2009 hat das aber niemanden interessiert. Die vergangenen drei Jahre mit immer neuen Hitzerekorden haben uns nun deutlich vor Augen geführt, wie relevant diese über zehn Jahre alten Erkenntnisse sind und dass sie dringend in die Präventionsstrategien aufgenommen werden müssen.

ne: Bei sehr großen Innenräumen, etwa bei Kirchen und Schlössern, soll ja aus Kostengründen eine Klimaanlage unmöglich sein. Was dann dazu führt, dass etwa mittelalterliche Altarbilder oder historische Orgeln Schaden nehmen …

Leissner: Das ist leider richtig. Es ist völlig unmöglich, sämtliche Kirchen, Burgen und Schlösser zu klimatisieren. Deshalb untersuchen wir auch, ob es passive Methoden zur klimatischen Regulierung geben kann. Dabei geht es zum Beispiel um die Inneneinrichtung, die klimadämpfend wirken kann. Im Fall des Königshauses am Schachen in Bayern, einem der Lieblingsgebäude von König Ludwig II., hat sich gezeigt, dass Teppiche oder Samtvorhänge zur Regulierung der Luftfeuchtigkeit beitragen und besonders große Fluktuationsspitzen abmildern können. Obwohl das Haus in ganz einfacher Ständerbauweise in 1800 Meter Höhe errichtet wurde und einem harschen Alpenklima ausgesetzt ist, haben die Kunstgegenstände so gut wie keinen Schaden genommen. Dennoch, wie ich bereits des öfteren betont habe, können wir trotz aller denkbaren Maßnahmen am Ende nicht sämtliche Kulturschätze retten.

ne: Das bedeutet aber doch Selektion?

Leissner: Wir werden uns wohl oder übel über eine Prioritätenliste Gedanken machen müssen. Das ist keine schöne Diskussion. Jeder scheut sich davor. Zumal, wie gesagt, die nötigen Daten fehlen. Die Diskussion zwischen Klimamodellierern und Kulturerbe-Verantwortlichen hat ja bisher kaum stattgefunden. Das ist ja auch ein Grund, warum wir das Keres

-Projekt gestartet haben, das ja einen Zeitraum bis zum Jahr 2050 betrachten soll. Natürlich sind solche Aussagen über die Zukunft immer auch mit Unsicherheiten behaftet. Aber die Szenarien geben wichtige Anhaltspunkte. 

ne: Allerdings erleben wir ja schon jetzt, dass in barocken Gartenanlagen wie etwa Potsdam-Sanssouci aber auch deutschlandweit bei Fachwerkbauten, aufgrund von langer Trockenheit massive Schäden auftreten. Es gehen also bereits heute Kulturgüter verloren …

Leissner: Da darf ich Ihnen gar nicht widersprechen. Aber ich möchte auch nicht alarmistisch werden. Im Bereich der historischen Gärten und Parklandschaften ist das Problem mittlerweile auch erkannt. Man weiß, man muss handeln. Im Gebäudebereich dringt das Thema erst durch. Das Beispiel der Fachwerkbauten trifft es gut, im Freilandmuseum von Bad Windsheim stehen 120 solcher historischen Häuser. Vor einigen Wochen habe ich dort mit den verantwortlichen Restauratoren gesprochen. Sie haben berichtet, dass die Renovierungs- und Restaurierungszyklen immer kürzer werden. Auf Dauer ist das finanziell nicht mehr leistbar, hier brauchen wir neue Strategien wie wir das Geld so nachhaltig wie möglich einsetzen, um möglichst vieles zu erhalten. Im Bewusstsein der verantwortlichen Politiker ist das aber noch nicht wirklich angekommen.

ne: Erstaunlich eigentlich, gerade in Union und FDP gibt es doch so einige Schlossbesitzer …

Leissner: Das stimmt. Wir hatten 2017 nach der Wahl sogar versucht, das Thema eines nationalen Forschungsprogramms zum Erhalt des Kulturerbes in das Koalitionsprogramm einzubringen. Der Punkt war in der ersten Fassung des Koalitionsvertrags enthalten. Dann wurde er aber bei den Verhandlungen wieder gestrichen. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Monika Grütters, ist als Staatsministerin direkt der Bundeskanzlerin zugeordnet. Aber sie hat kein Geld für Forschung. Im Forschungsministerium wiederum hatten wir schon zig Besprechungen. Aber es macht keiner etwas. Das Themenfeld ist ja sehr breit, es geht um ökonomische Auswirkungen, soziale Auswirkungen, beschleunigte Materialeffekte, Klimaneutralität und vieles mehr.

ne: Und die Bundesländer?

Leissner: Dort bleibt das Thema hängen. Die haben aber auch keine Forschungsprogramme. Die einzige Institution, die noch ein bisschen was fördert, ist die Deutsche Bundesstiftung Umwelt. Aber das sind kleine Projekte. Wir brauchen jedoch große, multidisziplinäre Projekte und kein Klein-klein. Ein richtiger Schritt in die Zukunft wäre, was auch Experten betonen, dass eine regelmäßige Pflege und Betreuung der Kulturgüter letztlich nicht teurer wäre als aufwändige Rettungsaktionen, dann, wenn die Schäden schon eingetreten sind.

ne: Hinsichtlich der finanziellen Ausstattung von Keres habe ich unterschiedliche Zahlen gefunden…

Leissner: Das ist dem Umstand geschuldet, dass das BMBF uns zwar eine Förderzusage erteilt, dabei aber vieles gestrichen hat. Wir hatten 1,97 Millionen Euro beantragt. Bekommen haben wir dann nur 1,8 Millionen.

ne: Mit welcher Begründung?

Leissner: Es gab keine. Wobei das angesichts der vielen Projektbeteiligten sehr wenig Geld ist. Im BMBF war man sogar der Meinung, dass die Teilnehmer der Expertentreffen ihre Reisekosten selbst tragen sollten. Das ist haarsträubend.

ne: Sie betonen die Zuständigkeit des BMBF. Ist nicht auch das Wirtschaftsministerium in der Pflicht. Einerseits liegt dort das Thema Energiewende, andererseits auch das Thema Tourismus – und dabei spielen Kulturdenkmäler ja eine riesige Rolle …

Leissner: Das stimmt. Sicher würde bei den Forschungsthemen aber auf die Ressortzuständigkeit verwiesen werden. Und ich darf sagen, dass wir auch im Rahmen der Forschungsallianz Kulturerbe, der neben den 22 Instituten der Fraunhofer-Gesellschaft, die Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die Forschungsmuseen der Leibniz-Gemeinschaft, die Staatlichen Kunstsammlungen SKD in Dresden und die Sächsische Landes- und Staatsbibliothek SLUB angehören, schon viele Anläufe unternommen haben. Immer wieder erfolglos. Nach dem Ende von Climate for Culture hatten wir sechs Jahre, bis 2020, eine völlige Durststrecke, wir konnten so gut wie gar nicht forschen. Nur Fraunhofer hat uns ein bisschen Geld gegeben. Das führt mittlerweile zu einem gravierenden Nachwuchsproblem. Wir brauchen Experten, die in Forschungsprojekten ein Verständnis für Naturwissenschaften und den Kulturerbe-Erhalt entwickeln und Erfahrung sammeln.

ne: Noch einmal zu der angesprochenen Prioritätenliste. Welche Kriterien müssten angelegt werden? Geht es darum, ein Ranking der Bedeutsamkeit zu erstellen?

Leissner: Zunächst müsste wissenschaftlich gesichert geklärt werden, welche Kulturgüter am stärksten vom Klimawandel betroffen sind. Sobald das erfolgt ist, braucht es eine gesamtgesellschaftliche Diskussion. Das wird eine Denkmalschutzbehörde alleine nicht entscheiden können. Zumal dabei der jungen Generation eine wichtige Rolle zufällt. Es gibt dazu eine Untersuchung aus Oxford. Dabei wurden jüngere Menschen befragt, die angaben, dass sie sich für das Kulturerbe gar nicht mehr so stark interessieren. Es sei ihnen zu langweilig präsentiert.

ne: Heißt das, wir müssen den konservatorischen Ansatz bei unserem Umgang mit Geschichte, also alt gleich erhaltenswert, korrigieren? Müssen wir in Zeiten des Klimawandels lernen loszulassen?

Leissner: Ich fürchte schon. Aber das passiert ja auch permanent. Viele Kulturdenkmäler sind einfach durch die Ausbreitung der Städte oder Industrieansiedlungen und Infrastrukturprojekte verschwunden. In unserer EU-Arbeitsgruppe gibt es auch die Sorge, dass durch den European Green Deal viel von der Kulturerbe-Substanz verschwinden wird. Es gibt viele alte Häuser in Städten und Dörfern, die das Gesicht einer Region prägen, aber eben nicht unter Denkmalschutz stehen. Wenn das alles modernisiert wird, kommt es auch zu Verlust. Eletztlich geht es also darum, was es der Gesellschaft wert ist, das Kulturerbe zu retten. Das muss breit diskutiert werden. Es geht ja nicht nur um alte Schlösser. Zum Kulturerbe gehören auch Archive, Bibliotheken, Industrieanlagen oder die Laboraufzeichnungen unserer Wissenschaftler. Denken Sie an den Nobelpreis von 2015. Da wurde die chinesische Pharmakologin Youyou Tu für ein Malaria-Medikament ausgezeichnet. Die Idee für das Medikament hat sie in einem 1 300 Jahre alten Pflanzenbuch gefunden. Unser kulturelles Erbe ist also auch eine Quelle der Inspiration für Innovation. Innovation ist immer die Auseinandersetzung mit dem Alten um etwas Neues zu schaffen.

ne: So manch einer hofft mittels Digitalisierung Kulturgüter zu retten …

Leissner: Die Digitalisierung ist eine große Chance für Dinge, die man physisch nicht retten kann. Wobei dann wieder die Frage der Datenrettung aufkommt. Die Hardware veraltet, die Software auch. Insofern entsteht dabei ein enormer Kostendruck aufgrund der Notwendigkeit ständiger Aktualisierung der Speicher- und Abspielmedien.

ne: Wie passt es für Sie zusammen, dass manche Politiker viel über deutsches Kulturgut, Heimatgefühl und Identität sprechen, auf der anderen Seite aber gegen ‚Klimawahn‘ wettern?

Leissner: Das passt für diese Leute sehr gut zusammen. Da wird einfach vieles ausgeblendet. Nur dass die das Problem beim natürlichen Verfall und nicht beim Klimawandel sehen.

ne: Aber noch einmal, warum kommt nicht mehr Unterstützung von den klassischen konservativen Parteien?

Leissner: Eigentlich müsste das originär ein Themenkomplex für konservative Parteien wie CDU und CSU sein. Aber ich verstehe es auch nicht,  dort besteht kaum Interesse. Insofern müssten die wirklich aufpassen, dass dieses Thema nicht von anderen Akteuren zu anderen Zwecken gekapert wird.

ne: Vielleicht liegt es auch daran, dass sich das Thema des Kulturerbeschutzes nicht gut für einen Wahlkampf eignet, ähnlich wie das im Grunde bei der Energiewende der Fall ist. Die Sachverhalte sind komplex und sperrig …

Leissner: Ich denke, wir müssen das Kulturerbe anders erzählen. Wir müssen auch die jungen Leute abholen. Die sollten verstehen, in welchem Ausmaß aktuelle Musik, Mode, Filme, Computerspiele von der Vergangenheit beeinflusst sind. Diese Geschichte wird mir zu wenig erzählt. Jungen Menschen ist gar nicht klar, wie weit das, was sie täglich nutzen, was sie denken, von der Vergangenheit genährt ist.

ne: Damit wären wir beim Bildungsauftrag, der ja auch dem Staat zukommt, angefangen mit der Ausstattung der Schulen und Universitäten …

Leissner: Tatsächlich geht es dabei ja um Lenkungsinstrumente der Politik. Wenn nur noch zehn Prozent der Bevölkerung ihre Geschichte kennen und verstehen, ist es leicht, den anderen 90 Prozent etwas einzureden. Wer also zum Beispiel nicht weiß, dass es vor 2000 Jahren in der Türkei, Ägypten oder dem Iran auch viele christliche Gemeinden gegeben hat und die entsprechenden Bauwerke verschwinden, der wird natürlich glauben, dass der Islam dort schon immer die vorherrschende Religion war. Ja, es geht dabei um den staatlichen Bildungsauftrag.

ne: Sie haben die Situation hierzulande umfassend beschrieben. Wird das Thema auf EU-Ebene hinreichend angegangen?

Leissner: In Artikel 3 des Lissabon-Vertrags steht, dass die Europäische Union sich um die Erhaltung des europäischen Kulturerbes kümmern muss. Die neue Kommissionspräsidentin von der Leyen legt rund zehn Jahre danach das wichtigste Projekt der EU – den Green Deal vor – und zum Kulturerbe steht kein Wort drin. Keines der wirklich großen EU-Programme bezieht sich auf den Schutz des Kulturerbes. Was das bedeutet, ist ja klar – wenn in den zentralen politischen Programmen der EU das Thema nicht aufgeführt wird, gibt es für entsprechende Projekte auch kein Geld. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.


Johanna Leissner

ist wissenschaftliche Vertreterin der Fraunhofer-Institute IAP, IBP, ICT, IGB, IMW und ISC im EU-Büro der Fraunhofer-Gesellschaft in Brüssel sowie Gründerin der Forschungsallianz Kulturerbe.

Trả lời